Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und der Marxismus
Anlässlich der zunehmenden autoritären und neofaschistischen Tendenzen in der Welt erinnert Paul Stegemann an Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“ (1933) und an andere Schriften Reichs aus der Zeit um 1930. Diese Erinnerung ist wichtig, weil Reich seinerzeit als einer der ersten die wichtige Frage stellte, wie die Krise des Kapitalismus und die autoritäre (faschistische oder nationalsozialistische) Revolte als Reaktion darauf zusammenhängen, und diese Frage mit Hilfe der Psychoanalyse Freuds beantwortete.
Eine Antwort darauf zu finden, ist auch heute neu wieder von großer Bedeutung. Dabei können Untersuchungen wie die von Reich von großer Hilfe sein. Jedoch lassen sie sich nicht bruchlos auf die heutigen Verhältnisse in Europa übertragen. Hier hat sich die kapitalistische Marktgesellschaft über den Stand ihrer Entwicklung, den sie in der Weimarer Republik erreicht hatte, hinaus entwickelt. Damals ging es um die Brechung des Restwiderstandes gegen die totale Subsumtion der Arbeit unter das Kapital. Nationalsozialistische und faschistische Regimes besorgten das Geschäft. Nach dem 2. Weltkrieg entwickelten sich die europäischen Gesellschaften auf der Grundlage der real subsumierten Lohnarbeit zu funktional ausdifferenzierten Gesellschaften. Ein Fortschritt, der wiederum die Grundlage für die Globalisierung des Kapitals der fortgeschrittenen kapitalistischen Zentren (Westeuropa, Nordamerika, Japan, Australien) bildete, deren Folgen nun auf eben diese Regionen der Welt (Immigration) zurückwirken. Ein Fortschritt außerdem, der dazu führte, dass die von Reich kritisierte Sexualunterdrückung (1918 - 1933) innerhalb dieser fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften einen erheblichen Gestaltwandel durchgemacht hat, den H. Marcuse als "repressive Entsublimierung" der Sexualität (Marxuse) und funktionale Differenzierung von Sex und Liebe beschreibt. Diese Weiterentwicklung der kapitalistischen Gesellschaft zur angeblich „postmodernen“ muss bedacht werden, wenn die kritische Theorie des Subjekts von Reich auf die heutige Situation in Europa zur Beantwortung der Frage beitragen soll, wie die autoritär-konformistische Revolte hier und heute mit der krisenhaften Bewegung des globalen Kapitalismus zusammenhängt. In der Konstellation mit einer solchen kritischen Reflexion der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse im EU-Reich kann Reichs psychoanalytisch orientierte Kritik der bürgerlichen Subjektivität einen wertvollen Beitrag zur Erklärung der autoritären Revolte dieser Tage leisten. Deshalb erinnert Paul Stegemann an Reichs diesbezügliche Schriften.
In anderen Teilen der Welt, etwa in der Türkei oder im Iran, ist die kapitalistische Entwicklung dagegen auf einem Stand, der im Großen und Ganzen dem Stand der Entwicklung des Kapitalismus im frühen 20. Jahrhundert oder späten 19. Jahrhundert in Mitteleuropa entspricht. Die reale Subsumtion der Arbeit unter das Kapital ist noch nicht vollends durchgesetzt. Formen traditioneller, halbfeudaler Herrschaft prägen vor allem auf dem Lande noch das Leben und setzen der Durchrationalisierung des Lebens im Sinne der „rationalen Herrschaft“ des funktional differenzierten Doppelgespanns von Kapital und Arbeit Widerstand entgegen. Die autoritäre Religion (hier der Islam) bekämpft die funktionale Differenzierung von Staat und privatbürgerlicher Gesellschaft, zu der auch die Trennung von Staat und Religion gehört, wie einst die autoritäre protestantische Kirche Preußens diese Trennung bis zum Jahr 1918 erfolgreich abwehren konnte und die autoritäre katholische Kirche Spaniens sie sogar bis zum Tode Francos verhinderte. Die Familienstrukturen sind tief patriarchalisch geprägt und die Sexualunterdrückung, wie Reich sie beschreibt, mitsamt den dazugehörigen normativen, religiös gestützten Vorstellungen, ist ehrbare, sittsame Alltagspraxis, und wer sich ihr nicht beugt, gilt als ehrlos. Die Staatsreligion (Islam) tut alles, was in ihrer Macht steht, um diese autoritäre, patriarchalische Familienstruktur aufrechtzuerhalten und im Prozess der Sozialisation in Herz und Hirn der Kinder zu verankern, obgleich diese Strukturen in dem Maße, wie sich die kapitalistische Produktionsweise und der Tauschverkehr als dominante Form der Vergesellschaftung in den Gesellschaften ausbreitet, mit der von dieser Gesellschaftsform geforderten Lebensweise und Rationalität des Verhaltens nicht in Einklang zu bringen sind. Die vom Vater eingeforderte Autorität in der Familie verliert durch diese Veränderungen ihre historisch-materielle Grundlage. Sie wird hohl wie die als Wohlanständigkeit religiös gefeierte Sexualunterdrückung hohl und als solche, als Unterdrückung, durchsichtig wird. Das alles sind gesellschaftliche Bedingungen, die den Bedingungen sehr ähnlich sind, die Reich in seiner „Massenpsychologie des Faschismus“ (1933) und seinem Aufsatz „Der masochistische Charakter“ (1932) und darüber hinaus auch Fromm und Horkheimer in der großen Untersuchung über "Autorität und Familie“[1] beschrieben haben,. Hier lässt sich die Theorie Reichs vom „masochistischen Charakter“ und „der Massenpsychologie des Faschismus“ und Fromms Abhandlung über den sadomasochistischen Charakter in „Autorität und Familie“ wegen der Ähnlichkeit der Umstände sehr viel direkter anwenden. Das gilt auch fürdie Anwendung der Theorie auf subkulturelle Sozialisationsmilieus von Zuwanderern, die diesem Herkunftsmilieu verhaftet geblieben sind.
Unabhängig davon, ob man die kritische Sozialpsychologie Reichs (oder andere ähnliche Theorien[3]) so oder so anwendet, zunächst einmal ist es wichtig, sie neu wieder mit ihren Stärken und Schwächen in Erinnerung zu bringen. Das will Paul Stegemann mit diesem Aufsatz erreichen und zugleich dazu ermutigen, die Frage, wie die Bewegung der kapitalistischen Gesellschaftsform und das Auftauchen autoritärer Revolten zusammenhängen, mit ihrer Hilfe neu anzupacken. s. dazu auch Im Kritiknetz: H. Dahmer, https://www.kritiknetz.de/neuerechte/1454-wilhelm-reichs-massenpsychologie-des-faschismus-nach-90-jahren
Heinz Gess
[1] E. Fromm. M. Horkheimer, H. Mayer, H. Marcuse, u.a. Autorität und Familie, Paris 1936
[3] Siehe dazu H. Dahmer, Libido und Gesellschaft. Studien über Freud und die Freudsche Linke, Frankfurt/Main 1982
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