In seinem Aufsatz zur "Identitätskritik" kritisiert Helmut Dahmer die xenophob-autoritären Strömung in der westlichen Welt, die sich im Gefolge der Finanzkrise von 2008 gegen die als „Elite“ bezeichneten Parteipolitiker der parlamentarischen Demokratien richtet. Demagogen, die dem kollektiven Narzissmus Futter geben, bezeichnen sich selbst als „Identitäre“. Das sind Leute, die ihren Anhängern versichern, „dass sie so, wie sie nun einmal geworden sind, immer schon ganz in Ordnung sind, dass ihre Lebensweise die einzig wahre ist, dass sie sich keineswegs mit anderen vergleichen oder sich gar, anderen zuliebe, irgendwie ändern müssen. Sie vereidigen sie auf den Status quo.
Den vielen Habenichtsen wird weisgemacht, sie hätten doch auch etwas zu eigen, nämlich sich selbst, ihre ‚Identität’. Dass sie, als Abhängige, beständig sich selbst verkaufen müssen, um sich selbst auch nur zu erhalten, fällt dabei unter den Tisch. Im Beharren auf ihrer „Jemeinigkeit“ (Heidegger) glauben sie Halt zu finden. So wird die Identität, in die einer hineingeboren und die ihm von Anderen stets wieder zugesprochen wird, vom Korsett zur Zwangsjacke. Die „Identitären“ (…) fürchten jene relative Freiheit, die die kapitalistische Moderne mit sich brachte: die Freiheit, sich von Ort, Praxis und Tradition zu distanzieren, von einer Identität zu einer anderen und zu einer dritten überzugehen und, ohne die jeweils aufgehobene Identifizierung zu verleugnen, sie allesamt zu relativieren. Die sich an ihre Identität klammern fürchten, was ihre Chance wäre: vom Pfahl- zum Weltbürger, also zum Menschen zu werden.“ (Dahmer) Es gibt aber eine Minderheit geistesgegenwärtiger kritischer Intellektueller und politischer Kleingruppen, die (mehr oder weniger) in der Lage ist, zu verstehen, was vorgeht. Ihre dringliche Aufgabe ist es, so Dahmer, „den politischen Dialog mit der desorientierten, zerstreuten Masse aufzunehmen und sie gegen die Sirenengesänge der deutschen und österreichischen Trumps, Erdogans, Gottesfaschisten, Orbáns, Putins und ihrer Gefolgsleute zu immunisieren.“ (Dahmer)
Der sehr aufschlussreiche Aufsatz von Helmut Dahmer mit dem Titel "Fetisch 'Identität'" müsste genauer heißen "Fetisch 'Identiät'" in der 'westlichen' Welt", denn Dahmer zielt mit seinem Aufsatz auf die hiesigen "Identitären", ohne die allgemeinere (internationale) Bedeutung namentlich in der muslilimisch-arabischen Welt in Abrede zu stellen, in der derselbe Fetisch in islamischer (islamistischer) Erscheinungsform auftritt.
Postscriptum zu einer Textpassage„70 Jahre nach dem Holocaust sind die Juden als bevorzugtes Hassobjekt durch die Muslime ersetzt worden, und auch diese werden beschuldigt, demnächst die Herrschaft in Europa übernehmen zu wollen“. (S. 6) Als Herausgeber erkläre ich ausdrücklich, dass ich diese Behauptung für grundfalsch halte.
Dazu soviel:
1. Nicht „die Muslime“ sind bevorzugtes antisemitisches Hassobjekt in Europa, sondern das Hassobjekt des Judenhasses bleiben die Juden, indes der Hass sich nunmehr auf die Juden Israels, die so genannten „Zionisten“ und ihre Verbündeten konzentriert und die Lüge verbreitet wird, mit diesem Hass habe es eine grundlegende andere Bewandtnis als mit dem 2000 Jahre alten christlichen und 1400 Jahre alten muslimischen Judenhass. Hieß es früher: „Die Juden sind unser Unglück“, so heißt es heute: „Israel ist unser Unglück“, und man heißt all die „guten Juden“ willkommen, die bei dieser Hasspropaganda gegen die „Judenrepublik“ mitmachen. Wieder läuft die alte Hasspropaganda Luthers auf Hochtouren, nach der die Juden „Landräuber“ sind, die dem Urvolk mit ihrem uns gestohlenen Reichtum das Land unter den Füßen wegziehen und „uns“ zu ihren Gefangenen auf unserem ererbten Boden machen,– mit Israel als dem bevorzugten Objekt der Hasspropaganda. Das Objekt des Antisemitismus, übrigens auch des muslimischen, ist und bleibt „der Jude“/“Israel“. Diesen Hass teilt das „christliche Abendland“ mit dem „islamischen Morgenland“. Darin wissen sie sich traut vereint. Die Verschiebung des antisemitischen Hassobjektes vom „Juden“ auf den „Islam“ hat angesichts dessen die konformistische Funktion, den antisemitischen Furor, den der Identitätsfetisch des genuin politischen Islam entfacht, zuzudecken und gegen Kritik zu immunisieren. Unter anderem auch dagegen schreibe ich im Kritiknetz an.
2. Es ist zu unterscheiden zwischen rationaler Furcht und richtiger Kritik an einer religiösen Lehre, die die menschliche und politische Emanzipation bekämpft und Judenhass propagiert, wie es der Islam (und übrigens auch das Christentum) von Anfang an tun, und bloß wahnhaft falscher Projektion dessen, was in einem selbst ist, auf diejenigen, die von der herrschenden Propaganda zum Feind bestimmt werden. Das unterlässt Dahmer. Er schweigt zum blutigen islamischen Antisemitismus und dem blutigen Kampf islamischer Djihadisten gegen die menschliche und politische Emanzipation von der autoritären Religion, die die Menschen wie in einer kollektiven Zwangsneurose gefangen hält. Das ermöglicht ihm die Kritik an der antiemanzipatorischen Lehre und die rational begründete Sorge vor dem Djihadismus falsch als Verschiebung des antisemitischen Hassobjektes vom „Juden auf Muslime“ darzustellen und den Pakt mit dem noch Schlechteren gegen das schlechte Bessere einzugehen.
Von dieser Einschränkung abgesehen halte ich den Text Dahmers für sehr lesenswert, weil er viel Richtiges enthält, an das in dieser Zeit zu erinnern dringlich ist.
Heinz Gess
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