aus der Reihe: vor hundert Jahren
Vor siebzig Jahren, 1947, erschien die ›Dialektik der Aufklärung‹ im Verlag Querido in Amsterdam. Vor hundert Jahren, vermutlich am 23. 10. 1917, schrieb Kafka die kurze Erzählung ›Das Schweigen der Sirenen‹. In ihr revidierte er, wie der Titel der Erzählung schon sagt, den Mythos vom Sirenengesang, dessen Verlockungen der listenreiche Odysseus widerstand. Adorno kannte diese Erzählung Kafkas. Dennoch fällt Kafkas Name in der ›Dialektik der Aufklärung‹ nicht.
Norbert Rath erklärt dieses Übergehen Kafkas im folgenden Essay damit, dass Adorno die Erzählung Homers und Kafka seine revidierte Version dieser Erzählung als dialektisches Bild für zwei unterschiedliche Epochen der modernen Gesellschaft verwenden. Bei Horkheimer und Adorno steht der homerische Odysseus, der gefesselt dem Gesang der Sirenen lauscht, sinnbildlich für die Urgeschichte des selbstherrlichen Subjekts, des aufklärenden Mythos-Kritikers und in eins damit für die Urgeschichte des autoritären Charakters. Bei Kafka steht der von ihm revidierte Odysseus für den faschistischen Demagogen und Führer, der nur an Ketten und „Ohren zu und durch“ denkt, während sein Gesicht Glückseligkeit simuliert.[1] [2]
Von diesem interpretatorischen Befund ausgehend setzt sich N. Rath dann mit der Kritik von J. Habermas an der „Dialektik der Aufklärung" und insbesondere Adornos/ Horkheimers und Kafkas Deutung des Faschismus/Nationalsozialismus sowie den kritischen Ergänzungen auseinander, die Negt und Kluge dazu beigetragen haben.
Heinz Gess
Wenn Sie den Essay lesen möchten, klicken Sie bitte h i e r .
[1] S. dazu auch meine Interpretation der Erzählung Kafkas „Auf der Galerie“ im Essay: „Gesundheit als Symptomfreiheit. Über Watzlawick, Wilber und Kafka“. Link: http://bit.ly/2ybDWvm, S. 8 ff.
[2] S. dazu: P. Reichel, der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, Frankfurt/M. 1993