Zur Kritischen Theorie der Kairószeit
Neupert-Doppler reflektiert in der folgenden Abhandlung auf die philosophischen Begriffe „Kairós“, „Jetzt-Zeit“, „Fortschritt“, „Konstitution“. An den Begriff des „Kairós“ (Tillich, Adorno, Horkheimer) oder der „Jetzt-Zeit“ (Benjamin) orientieren sich sowohl Tillichs kritische Theologie als die kritische Theorie von Adorno, Benjamin, Horkheimer und sie sind beide bis heute gebräuchlich:
„Der Sozialismus muss, wenn er auf eine kommende harmonische Welt wartet, mit einem Sprung rechnen, der in keiner Weise aus der gegebenen Wirklichkeit verständlich gemacht werden kann“ (Tillich 1933 in GW II: 283)
„Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische als den Marx die Revolution begriffen hat“ (Benjamin 1940 in GS I.2: 701). Benjamins Sprung ist allerdings zugleich eine Sprengung: „Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich“ (ebd.).
„Maßlos wäre das Verbrechen der Revolutionäre, wenn sie den Augenblick vorübergehen ließen“ (Lenin 1917/GW 6: 224).
Die Bezugnahme auf den Kairós bzw. die Jetzt-Zeit gehört zur der Praxis der kritischen Theorie. Dagegen ist die kritische Theorie nicht mit der Vorstellung vereinbar, dass die bessere Praxis der individuellen und gesellschaftlichen Emanzipation von gesellschaftlicher Herrschaft das notwendige Resultat des gesellschaftlichen Fortschritts ist. Dass die bessere Praxis mit ökonomischer, dialektischer oder naturgeschichtlicher Notwendigkeit (Engels) aus dem Fortschritt der kapitalistischen Produktionsweise folge, ist mit dem Gedanken des Kairós bzw. Jetzt-Zeit für die Revolution und Neukonstitution nicht vereinbar: „Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom“ (Benjamin 1940 in GS I.2: 698). „Sie [die Sozialdemokratie] gefiel sich darin, der Arbeiterklasse die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen zuzuspielen. Sie durchschnitt ihr damit die Sehne der besten Kraft. Die Klasse verlernte in dieser Schule gleich sehr den Haß wie den Opferwillen“ (Benjamin 1940 ebd.).
Was in diesem Aufsatz als Grundlegung geleistet wird, ist die Begründung, warum Kritische Theorie und Kairólogische Theorie zusammengehören, warum es keine Chronologie des Fortschritts gibt, die notwendigerweise von einem schlechten Zustand in eine bessere Gesellschaft führen muss. Aber auch vor dem anderen Extrem, einem subjektivistischen Aktivismus wird mit guten Argumenten gewarnt: „Nicht jedes ist zu jeder Zeit möglich, nicht jedes zu jeder Zeit wahr, nicht jedes in jedem Moment gefordert“ (Tillich 1922 in GW VI: 10).
Heinz Gess
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