Eine Kritik der Grundlagen der subjektiven WerttheorieDer britische Ökonom Nicholas Kaldor (1908-1986) stellte 1972 fest, dass „die Entwicklung der ökonomischen Theorie die eines ständigen Rückschritts, nicht Fortschritts“[1] gewesen sei. Diese für die Ökonomie desaströse Entwicklung führte er auf die sich gegen die Erfahrung verselbständigende, immer realitätsfernere, mathematische Ausarbeitung der frühen neoklassischen Konzeption zum ökonomischen Gleichgewicht zurück. Hans Peter Büttners Untersuchung bestätigt diese Einschätzung und benennt Mängel der Theorie, die in ihrem Rahmen ganz offensichtlich nicht behebbar sind, wenngleich das auch von den Professionals der „Volkswirtschaftlehre“ mit immer neuen Ad-hoc-Annahmen versucht wird. Denn der grundlegende Mangel der ökonomischen Theorie liegt in der Denkform selbst, in der die ökonomische Theorie sich bewusstlos bewegt, statt kritisch auf sie zu reflektieren. Sie ist das tief verinnerlichte subjektive Pendant der gesellschaftlichen Synthesis am kapitalistischen Geld; jene auf spezifische Weise abstrakte Denkform, die der gesellschaftlichen Synthesis am kapitalistischen Geld entspricht, aus ihr im 16. Jahrhundert entsprungen ist und seit dem 17. Jahrhundert von Europa aus ihren Siegeszug um die Welt angetreten hat. Die ökonomische Theorie, wie sie derzeit betrieben wird, ist nur die bewusstlos-reflexive Verdoppelung dieser aus der gesellschaftlichen Synthesis am Geld entsprungenen, Denkform und damit zugleich ihre Selbstaffirmation als „Wissenschaft“. Deshalb ist es auch zutreffend, sie als „bürgerliche“ oder „kapitalistische Ökonomie“ im Doppelsinn des Wortes zu bezeichnen. Als solche ist sie Ideologie im genauen Sinn des Marx’schen Wortes: „notwendig falsches Bewusstsein“.
Hans Peter Büttner schließt seine Studie ab mit der Feststellung und Aufforderung: „Diese Defizite (gemeint sind die Defizite der neoklassischen ökonomischen Theorie - HG) immer genauer zu benennen und immer schärfer herauszuarbeiten, bleibt eine der dringenden Aufgaben kritischer Gesellschaftstheorie im 21. Jahrhundert.“ Ich möchte dieses Diktum verschärfen und füge hinzu: Diese Defizite sind innerhalb der historisch spezifischen Denkform, in der sich die ökonomische Theorie - wie im übrigens auch die soziologische Theorie sozialer Systeme (N. Luhmann, T. Parsons) und ihr Komplement, die Theorie symbolischer Interaktion (G. H. Mead) - bewegt, nicht beseitigbar, es sei denn auf Kosten jeglichen empirischen Gehalts. Denn der Grund für die Missstände liegt in der auf spezifische, nämlich geldförmige Weise abstrakten Denkform selbst und in der unversöhnlichen Nichtidentität zwischen dieser Denkform und der Sache, auf die sie sich bezieht. Davon zeugt das systemisch-systematische Vergessen des Menschen als lebendig-leiblichen, gesellschaftlichen Individuums in der Produktion des Kapitals und überhaupt der stofflichen Seite der Ökonomie, die unter dem Bann des Geldes als Denkform als ihre vernachlässigenswerte Gebrauchswertseite erscheint. Was wirklich Not tut, um die gesellschaftlich produzierte Not der Menschheit und Erde zu beheben, worauf es wirklich ankäme, wäre folglich, sich aus dieser Denkform selber zu lösen und - statt in ihr immer weiter “funktional differenzierter“ (N. Luhmann) zu denken - auf sie selbst kritisch zu reflektieren. Damit wäre zwar keineswegs schon die Geldvermittlung selbst durchbrochen. „Doch wenn ihre Durchbrechung nicht schließlich durch sie selbst vollzogen werden soll, nämlich durch ihren katastrophischen Zusammenbruch, so gilt es dringend, theoretisch vorzudringen in das, was die hiesige Welt im Innersten so eisern zusammenhält, dass sie darüber birst.“[2]
Neu ist diese Forderung nicht und an Versuchen, sie in die theoretische und praktische Tat, in die Kritik der politischen Ökonomie und die Kritische Theorie der Gesellschaft sowie in den revolutionären Prozess einer besseren gesellschaftlichen Praxis umzusetzen, wenn die Bedingungen das ermöglichen, hat es nicht gefehlt,[3] aber in der Wissenschaft von der politischen Ökonomie, der hierzulande so genannten Volkswirtschaftslehre, ist davon offensichtlich bislang nichts angekommen, sondern allenthalben beherrscht Abwehr gegen das Infragestellen der herrschenden abstrakten Denkform in dieser vermeintlichen Wissenschaft. Als der Möglichkeit nach wahr oder falsch, damit intersubjektiv prüfbar und deshalb im wissenschaftlichen Diskurs zugelassen, gelten hier nur solche Gedanken (Theorien, Aussagensysteme) die von vornherein nach dieser in spezifischer Weise abstrakten, an der Synthesis am Geld geschulten Denkform (der Wertabstraktion) gedacht sind, so dass jeder Gedanke und jede Erfahrung lebendiger Menschen, die sich nicht auf diese Form bringen lassen, weil sie mit ihr unversöhnlich nichtidentisch sind, aus dem Diskurs dieser Wissenschaft als „unwissenschaftlich“ ausgeschlossen sind, obgleich sie zutreffend sein und z. B. ein wirkliches massenhaftes Leiden benennen können, das zu ändern wäre. Das ist es, was dringend zu ändern wäre. Es ist aber nicht zu ändern ohne die Bereitschaft zur kritischen Reflexion auf diese Denkform selbst und den Willen, über sie in der Theorie als Wegbereiter einer besseren Praxis und schließlich auch der gesellschaftlichen Praxis selbst hinauszukommen.
Heinz Gess
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1 Kaldor 1973, S. 83. (s. folgenden Text)
2 Eske Bockelmann (2015), Geld als gesellschaftliche Synthesis und Denkform, Kritik und Auflösung von Sohn-Rethels Rätsel, in: Kritiknetz – Zeitschrift für kritische Theorie der Gesellschaft, S. 2. Link: http://bit.ly/1GmoiMu
3 s. dazu auch im „Kritiknetz – Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft“ die Studien vor allem unter den Themengebieten Ideologie- und Religionskritik · Kritik der Politischen Ökonomie · Kritische Theorie