Über deutsche Befindlichkeiten, Offene Briefe und weltoffenen Antisemitismus
Wenn intellektuelle Produzenten der deutschen Kultur den Notstand ausrufen, weil sie die Freiheit der Meinungsäußerung gefährdet sehen, dann kann man sich darauf verlassen: Es geht um Israel. So auch diesmal wieder. Weil der Bundestag ausnahmsweise einmal klare Kante gegen den zunehmenden Judenhass zeigte, fühlt sich das schaffende deutsche Kulturkapital in seiner Meinungsfreiheit eingeschränkt und veröffentlicht ein Plädoyer mit dem Titel „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“. Das Dokument ist eine intellektuelle Bankrotterklärung. Allein schon der Titel ist ein Skandal. Denn was die „Weltoffenheit“ fordert, ist, dass man antisemitische Israel-Boykotteure nicht boykottieren dürfe, weil das Verbot antisemitischer Äußerungen, sofern sie sich auf Israel und nicht auf hier lebende Juden mit deutscher Staatsangehörigkeit beziehen, die Meinungsfreiheit einschränke.
Man besteht auf dem Recht zur Äußerung von antisemitisch konnotiertem Antizionismus bzw. von Israelbashing, das dem deutschen Publikum immer wieder bestätigt, dass die Verbrechen der Nazis längst aufgewogen werden durch die Verbrechen der israelischen Juden an den arabischen Palästinensern und dass Hitler vielleicht doch Recht hatte, wenn er sich präventiv „des Juden erwehrte“ (Hitler, Mein Kampf). Weil das schaffende deutsche Kulturkapital diese antisemitische Perspektive auf „den Juden unter den Staaten“ (Broder) im Zeitalter des Post-Nazismus nicht als die ihrige zu erkennen geben kann, braucht es nützliche Idioten, die für es sprechen. Es setzt sich dann vehement für deren Meinungsfreiheit ein, weil sie sagen, was es immer schon sagen wollte, aber als ‚geläutertes’ Deutschland mit ‚bewältigter Vergangenheit’ nicht sagen kann. Am beliebtesten sind dem schaffenden deutschen Kulturkapital zu diesem Zweck der palästinensische Araber, der sich aus purer Not und Verzweiflung gegen die Herrschaft des jüdischen Raubkapitals und Staats erhebt, und der Israel hassende Jude aus Israel. Der beliebte Araber hat die Funktion, beredt Zeugnis von den ewigen jüdischen Schandtaten und Verbrechen en masse abzulegen und dabei immerzu die Unschuld seines Volksstammes an all den Grausamkeiten zu beteuern. Er wird als der Gesamtpalästinenser imaginiert, der der Welt die Wahrheit über die Juden erzählt: So sind die Juden, wenn sie tun können, was sie wollen. Der Israel hassende israelische Jude hat die Funktion, das Urteil des vermeintlich unschuldigen Gesamtpalästinensers über den ‚jüdischen Terror’ zu bekräftigen und in deutschen Ohren damit seine Wahrheit zu bezeugen. Er steht für den Juden, der so wie der unschuldige Georg Bendemann das (falsche) Schuldurteil der schuldigen Welt über sich annimmt und seine ihm aufgebürdete Schuld schließlich durch den Tod durch Ertrinken büßt, nur um die Anerkennung und Liebe und sei es auch nur posthum – dieser verlogenen Welt zu finden:
„’Ein unschuldig Kind warst Du eigentlich, aber noch eigentlicher warst Du eine teuflische Macht! – Und darum wisse: ich verurteile Dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!’ (..) Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. (…) rief leise: ‚Liebe Eltern. Ich habe Euch doch immer geliebt’ und ließ sich hinabfallen. In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.“ (Franz Kafka, Das Urteil, In: ders. Sämtliche Werke, Neu Isenburg 2006, S. 935)
Heinz Gess
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