Eine Erinnerung an die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns anlässlich 20 Jahre „Soziale Systeme“
Vorwort von Heinz Gess
Bernd Ternes stellt zunächst kurz die gegenwärtige Lage in den Sozialwissenschaften dar, lässt der Lagebeurteilung einen selektiven Rückblick auf die Entwicklung der Soziologie seit den achtziger Jahren folgen und stellt anschließend die „soziale Systemtheorie“ Luhmanns mitsamt den ihr zugrunde liegenden Selbstorganisationskonzepten vor. Daran schließen sich in den Abschnitten „Sinn und Tod“ und „Gebrauchsanweisung und Aussicht“ einige kritische Reflektionen der Systemtheorie an.
Von besonderer Relevanz für die Kritik der soziologischen Systemtheorie scheint mir ein Gedanke zu sein, den Ternes in dem Abschnitt „Sinn und Tod“ äußert. Dort stellt er zunächst zutreffend fest, dass Selbsterzeugung von (sozialen) Systemen bedeutet, dass es für sie kein Ende, kein Sterben gibt. Es gibt in ihr anders als in der Kritischen Theorie des Systems des Kapitals von Karl Marx keine aus der Form der Selbsterzeugung des sozialen Systems selbst entstehende Grenze seiner Selbsterzeugung, an der sie aus immanenten Gründen, die in der Bewegungsform selbst liegen, in die Krise gerät und erlischt, sofern nicht von außen mit adäquaten Stützungsmaßnahmen, die die Bewegung in Gang halten sollen, reagiert wird. Mit anderen Worten: Es gibt anders als bei organischen Systemen keinen Tod des sich selbsterzeugenden sozialen Systems und ineins damit, keine (denk-) mögliche Selbstauslöschung des sozialen Sinns. Es ließe sich noch hinzufügen, dass soziale Systeme bei Luhmann nicht nur ohne Ende, sondern als endlos sich selbst erzeugende – quasi gottgleiche - Systeme auch ohne denkbaren Anfang, ohne „Geburt“, sind, und sich als geschlechtslos abstrakte Sinnsysteme auch nicht in einem dem Geschlechtsakt analogen Akt fortzeugen können. Sie werden nicht geboren, sterben nicht, zeugen nicht, sondern generieren sich fortwährend selbst als ewige Immergleiche. Gesellschaft als ewige Wiederkehr desselben Abstrakt-Identischen oder mit anderen Worten: Das „automatische Subjekt“ (Marx) ohne Schranke in der Zeit, kapitalistische Akkumulation ohne Ende.
Doch geht das wirklich, ohne dass die endlose Autopoiesis dieses sozialen Systems nicht ihre eigenen Voraussetzungen zerstört: die Erde und den gesellschaftlichen Menschen? K. Marx hat das bekanntlich verneint. Verneint haben das aber auch „Theoretiker der extremen Reaktion“ wie der längst vergessene Spengler, dessen Kritik des Liberalismus nach Adorno „sich der progressiven in vielem überlegen zeigte“[1]. Aber sie haben es aus ganz anderen Gründen als Marx und mit entgegen gesetzter Intention verneint. Ternes stellt sich dieselbe Frage auch und neigt ebenfalls dazu, sie mit Nein zu beantworten. Es stützt sich in seiner Antwort auch nicht auf die durchgeführte Kritik der politischen Ökonomie oder ihre Erweiterung zur Kritischen Theorie der Gesellschaft, sondern allein auf seine Beobachtung, welches Modell für Autopoiesis Luhmann bei seiner Theoriekonstruktion vor Augen hat und stellt mit Ernüchterung fest, dass Luhmanns Modell Komplexität reduzierende und verwaltende, rekursiv operierende semantische und technische Maschinensysteme sind. „Diese Maschinen aber “, so Ternes, „brauchen für sich keinen Sinn, um für Menschen Sinn zu machen; denn sie verhalten sich nur, handeln aber nicht; sie funktionieren nur, oder sie funktionieren nicht. Sie sind schon längst ‚am Ende’, also da, wo die differenzlose Einheit, die im Sinnbegriff einbetoniert wurde, erreicht ist. Nur wissen die kybernetischen Maschinen nichts davon. Und das brauchen sie auch nicht in Bezug auf Handlung; denn Handlungen sind“ (nach Luhmann – HG) nur Formen der Selbstbeschreibung von Kommunikationssystemen und also ‚systemrelative autonome Erfindungen’. [...] Es handelt sich immer nur um eine Selbstsimplifikation im jeweiligen System’. Luhmann liefert den rekursiv operierenden Maschinensystemen mit seiner Theorie das Zertifikat nach, dass sie die eigentliche Avantgarde aller Nichttoten, dass sie die eigentliche Formobjektivation dessen sind, was Lebendigkeit für sich beansprucht. Aber leider wird er nur von Menschen gelesen, die lesen, dass er sie nicht meint.“
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