Statt eines Vorspanns ein Auszug aus dem Interview mit Gerhard Scheit:
Scheit:
Zum wirklichen Verbrechen kann Kitsch erst in der Politik werden, denn dort dient er der Ästhetisierung der in jedem Moment real vorhandenen Gewalt. So haben auch das Äußerste an Kitsch die Nationalsozialisten zustande gebracht, da sie am konsequentesten die Politik ästhetisiert haben. Und es ging auch gar nicht anders. Es war ein immanenter Bestandteil ihres politischen Systems, wenn man das als System überhaupt bezeichnen kann. Denn die Ausrichtung der ganzen Gesellschaft auf den Vernichtungskrieg, der dann auch die Bereitschaft zum Selbstopfer einschließen muss, ist überhaupt nur möglich, wenn der Tod, oder wie Carl Schmitt sagt: „Tötungsbereitschaft und Todesbereitschaft“ in einem zum Kern der Ästhetisierung wird.
Interviewer:
Du hast vorher Brecht erwähnt. ... Die „Maßnahme“, die Bereitschaft zu Opfer und Selbstopfer, die durch die Unterordnung des Individuums unter ein Kollektiv erfolgt, das dann eben, wie du schreibst, laut Brecht keine Rücksicht auf die in ihm vereinten Einzelleben nehmen darf, wenn es seinen Bestand sichern will. Brauchen politische Kollektive den Kitsch? Welche Funktion erfüllt der Kitsch für die politische Organisation?
Scheit:
Das kann man durchaus in dieser Allgemeinheit formulieren, dass politische Kollektive den
Kitsch brauchen. Zugleich würde ich aber wieder differenzieren wollen zwischen den verschiedenen Kollektiven, die es im Politischen gibt. Das hängt davon ab, wie sich die Einheit des Kollektivs jeweils zum Individuum verhält, wie sie sich ihm gegenüber zur Geltung bringt; was das Kollektiv also aus den Individuen macht und was die Individuen mit sich selbst machen in einem bestimmten Kollektiv. Diese Unterscheidungen muss man
machen, sogar wenn man Brechts „Maßnahme“ ins Auge fasst, in der es unzweifelhaft durchgängig diese Ästhetisierung des Selbstopfers gibt im Unterschied zu der erwähnten „Johanna der Schlachthöfe“. Man vergleiche Brechts „Maßnahme“ mit Nazipropaganda oder mit stalinistischer Propaganda. Dieses „Lehrstück“ provoziert dadurch, dass es ausspricht, was die Propaganda, damit die Individuen sich einfacher selbst belügen können, lieber verschweigt. Zugleich muss man aber festhalten, dass Brecht damit selbst zum Stalinisten geworden ist und dass es ihn dann nicht wenig Anstrengung gekostet hat, davon wieder wegzukommen und diese Idolatrie des Selbstopfers, die eine solche Ästhetisierung bedeutet, in Zweifel zu ziehen.
Interviewer:
In der Dramaturgie des Antisemitismus sprichst du von einer „Ästhetisierung des Souveräns“. Die geht für dich zusammen mit einer besonderen Lust im Sinne des Anti- semitismus an der „Imitation der Geächteten“. (...) Du schreibst da: „das Schicksal der Juden wird erzählt, nicht dargestellt“. Du schreibst von einer „Scheu“, Judenfiguren darzustellen.
Scheit:
Was ich damit gemeint habe, ist, dass die Imitation, das Nachmachen der Juden, einmal ein
wesentliches Merkmal des Antisemitismus war. Im antijüdischen Witz genauso wie auf der
Bühne oder im Film. Das war ganz essentiell für den Antisemitismus in seiner Ursprungs- phase. So kann man an das Vorige anknüpfend durchaus sagen, dass an antisemitischen Darstellungen das Verbrecherische des Kitsches mit Händen zu greifen ist, weil die Widersprüche, die Konflikte, das Unversöhnte der Gesellschaft, in der man lebt, dadurch beseitigt werden, dass die Figur „des Juden“ als „das Böse“ schlechthin stigmatisiert wird. Auf diese Figur des Juden wird projiziert, was man an der Gesellschaft nicht erträgt, um dadurch die eigene Abhängigkeit von abstrakt gewordenen gesellschaftlichen Verhältnissen auszuagieren. Indem man sich „den Juden“ als „das Böse“ katexochen vormacht und die jüdische Weltverschwörung als Ursache für alles Schlechte in der Welt vorspiegelt und vorgaukelt, glaubt man der Ursache dessen, worunter man leidet, habhaft zu werden. Das ist die Dramaturgie des Antisemitismus. Je abstrakter die gesellschaftlichen Verhältnisse wurden, je mehr sich die Geldwirtschaft sich entwickelt, das Kapitalverhältnis die Ge- sellschaft durchdrungen hat, desto größer wurde das Bedürfnis, die Abstraktheit der Verhältnisse zu personifizieren. Marx schreibt auch wörtlich (in den „Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie“): „dass die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen“ – und meint mit diesen realen Abstrak- tionen das Kapitalverhältnis. Umso größer diese Beherrschung durch Abstrak-tionen, umso größer das Bedürfnis, sie zu personifizieren, damit der Grund, warum man leidet, greifbar wird und vor allem: tötbar. Das ist der Mechanismus der antisemitischen Projektion.
Dass man ihm aber nachgibt und die Juden dafür hasst, dass man sich selbst belügt, dazu bedarf es einer Entscheidung, die jeder einzelne trifft und die im Grunde nicht erklärbar ist, nicht verständlich gemacht werden kann. Das ist das Wahrheitsmoment der Rede von Gut und Böse. Wie Sartre sagt: „Der Antisemitismus ist eine freie und totale Wahl, eine umfassende Haltung, die man nicht nur den Juden, sondern den Menschen im allgemeinen, der Geschichte und der Gesellschaft gegenüber einnimmt.“ Alle diese Judenfiguren sind Lehrbeispiele des verbrecherischen Kitsches. Das berühmteste Beispiel einer solchen projektiven Darstellung scheint die Figur des Shylock aus Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ zu sein – und doch ist er kein Beispiel dafür. Nicht deshalb, weil das Kapitalverhältnis zu Shakespeares Zeiten noch in den Kinderschuhen steckte, die Mechanismen des antisemitischen Wahns funktionieren schon ganz gut in diesem Stück. Zugleich aber durchbricht Shakespeare auch an bestimmten Stellen diese Projektionsmechanismen, und dann löst er auch das mörderische Klischee des habgierigen Juden auf. Dort nämlich, wo er den Dialog wirklich zur Entfaltung bringt, den Dialog zwischen dem christlichen Kaufmann und dem jüdischen Wucherer, dort zerbricht die Projektion, oder sie wird durchsichtig gemacht, denn es gelingt Shylock, indem er in den Konflikt tritt, indem sich dieser Konflikt auch verselbstständigt gegenüber den Klischees, sichtbar zu machen, welche Bedürfnisse die Christen eigentlich haben, wenn sie „den Juden“ auf diese oder jene Weise stigmatisieren; welche geheimen, eigenen Wünsche dahinter stecken, wenn sie so schlecht von den Juden reden. Und da geht Shakespeare über eine antisemitische Darstellung hinaus. Es bleibt natürlich trotzdem ein zutiefst problematisches Stück, was mit dem Handlungsverlauf und der idyllischen Gegenhandlung zu tun hat.
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