Man kann manche Textpassagen vor allem in Nietzsches »Also sprach Zarathustra« so auslegen, wie Rotermundt es tut. Dann erscheint Nietzsche, für den der Gedanke der individuellen und gesellschaftlichen Emanzipation von Herrschaft und der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts, die Leitidee der kritischen Theorie der Gesellschaft, ein Endprodukt der von ihm bekämpften Ressentiment- und Sklavenmoral ist, selber als ein kritischer Theoretiker und sein »Übermensch« als Avantgardist der revolutionären Praxis. Dann wären auch die Verbindungslinien, die von Nietzsches Werk zum Italo- oder Nazifaschismus führen, Linien wie sie Lukacs, Taureck (1989) u.a. aufgezeigt haben, bloße Irreführungen. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Nietzsche ist trotz aller scharfsinnigen Ideologiekritik, die er übt, und aus der für die kritische Theorie der Gesellschaft manche Anregungen zu gewinnen sind, keineswegs ein Kritiker, der die Tür für die revolutionäre Praxis angesichts widriger Umstände offen halten will.
Vielmehr hält er die Leitidee der Emanzipation von Herrschaft und der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts für das naturverlassene Hirngespinst einer durch die Sklavenmoral des Ressentiments verdummten und "entarteten" Menschenspezies", sieht in ihr mit anderen Worten selber nur eine der mit dem Tode Gottes hinfällig gewordenen "höheren Werte". Der »Wille zur Macht«, die Herrschaft der Starken über die Schwachen, ist für ihn ein unaufhebbarer organischer Bestandteil des Lebens überhaupt, den nur kranke, entartete, degenerierte, gewissermaßen denaturalisierte Naturen leugnen können. Wo er Ideologie- und Religionskritik übt, da übt er sie immer an der durch die Sklavenmoral oder den Tausch vermittelten, raffinierten, hinterlistigen, verstellten und verdeckten, angeblich "unechten" Herrschaft zugunsten der unverstellten, unmittelbaren, "echten" Herrschaft der starken Führernaturen über die Schwachen. Dasselbe gilt für das gesellschaftliche Unrecht, das die kritische und solidarische Praxis aufheben will. Auch dieses Unrecht, die Ausbeutung des Menschen durch den anderen Menschen ist für ihn ein ewiges, unausweichliches schicksalhaftes Verhältnis, ein Fatum und Faktum, das der von der Sklavenmoral mitsamt all ihren Derivaten befreite neue Übermensch gelassen zu akzeptieren und zu lieben gelernt hat. Ohne Herrschaft gibt es für Nietzsche keinen von den Menschen gesetzten »Sinn der Erde«, und wo es Herrschaft gibt, da muss es auch Ausbeutung, Aneignung fremder Arbeit ohne Gegenleistung geben. Wie sollten "die Geistigen" und "Wächter" sonst ihrer Herrenaufgabe gerecht werden, zu der sie ihre starke geistige oder physische Natur bestimmt? Das Ärgernis, das Nietzsche umtreibt, ist nicht das Faktum der Herrschaft von Menschen über andere Menschen und die des damit verbundenen gesellschaftlichen Unrechts als solches, sondern die Tatsache, dass Herrschaft und Ausbeutung in der derzeit bestehenden kapitalistischen Form "der Erde keinen Sinn schaffen", ohne Zweck selbstbezüglich in sich selber kreisen. Mit dieser Sinnlosigkeit von Herrschaft und Ausbeutung, nicht aber mit Herrschaft und Ausbeutung als solcher, muss es nach Nietzsche endlich ein Ende haben.
Notiz: Über Nietzsche und Marx von Heinz Gess
Notiz: Über Nietzsche und Marx von Heinz Gess
Link zum Artikel (PDF): "Herrschaft, die "Sinn schafft" oder Emanzipation von Herrschaft?". Klicken Sie bitte hier.