Der folgende Essay unternimmt den verdienstvollen Versuch einer Kritik der nachmetaphysischen Diskursethik von Habermas aus dem Geist der von Habermas als veraltet gescholtenen Metaphysik, mit der sein Kontrahent Heinz Haag angesichts ihres Sturzes in Form einer negativ gewendeten Metaphysik solidarisch bleibt. Die Kritik an Habermas‘ nachmetaphysischer Diskurstheorie wird in Form einer „imaginären Habermas-Haag-Debatte“ (Kern) geführt, so dass auf jedes Argument von Habermas für seine Diskursethik ein Gegenargument aus Haags negativer Metaphysik folgt.
Haag ist als Philosoph kritischer Theoretiker: Er zielt auf bessere gesellschaftliche Praxis der Gesellschaft ab. Deshalb ist es für ihn von größter Wichtigkeit, Natur als wesenhaft zu begreifen, und zwar nicht nur für die Philosophie, sondern für das Schicksal der Menschheit als ganzer. Eine als wesenlos ausgegebene Natur sei genau das passgerechte, falsche Bewusstsein für die neuzeitliche Ökonomie, die die äußere und die menschliche Natur als bloßen Rohstoff der Kapitalverwertung ansieht und sie zur „Brandschatzung“ freigibt.
Haag intendiert keine dogmatische Wesensschau. Er weiß, die Naturwissenschaften bilden den historischen Stand der Auseinandersetzung der Gesellschaft mit der Natur ab. Eine überhistorisch-ewige Philosophie, die das Wesen Gottes wiederzugeben vorgibt und daraus ewige normative Wahrheiten für den Menschen ableitet, ist Scharlatanerie und magisches Denken. Diese Erkenntnis führt bei Haag aber nicht dazu, auf den Wahrheitsbegriff zu verzichten. Eine politische Praxis, wie sie die kritische Theorie anstrebt, muss für Haag „einer Theorie mächtig sein“, die „auf Wahrheit nicht verzichtet.“ (Kern)
Wenn die Behauptung im Raum steht, Wahrheit gäbe es gar nicht, das Reden davon sei metaphysisches Zeug, dann stärkt dies nach Peter Kern nur die mit den Verhältnissen einverstandenen Kräfte. „Was aber soll uns eine Wahrheit, die wir nicht erkennen können? Denn Haag lässt ja keinen Zweifel an der dem menschlichen Wissen unzugänglichen Welt hinter der Erscheinung. In das Wesen der Natur einzudringen, ist unserer Vernunft nicht möglich, was den Wesensbegriff aber nicht bedeutungslos macht. Denn da das intelligible Ansichsein von Natur erweisbar ist, steht die Ordnung der Dinge nicht im Belieben der Subjekte. Dann können rationale Argumente dagegen formuliert werden, dass Menschen in Viehwaggons transportiert, wie Tiere ausgenutzt und getötet werden. Mit dem Begriff der Wahrheit wird kein spieltheoretisches Späßchen und kein konstruktivistisches Anything goes verhandelt; dafür steht der zitierte Satz. Was das Wesen sei, bleibt uns unbekannt. Was das davon bestimmte Unwesen ist, bleibt uns keineswegs unbekannt.“ (Kern)
Haag nennt seine Philosophie eine „negative Metaphysik“. Dafür steht, so Kern, „das verwendete Adjektiv. Wofür steht aber das Substantiv? (…) Haag lässt seine Leser nicht im Zweifel: Für ‚seine‘ Substanz ist die Theologie zuständig. Die nach Arten und Gattungen geordnete Natur, das Zusammenspiel der Naturgesetze und die Symmetrie der dafür notwendigen Naturstoffe verweisen auf ein den kosmischen Prozess ordnendes Absolutes, eine allmächtige Vernunft“ (Kern). Mit anderen Worten: Sie verweise auf Gott. Haag behauptet also nicht weniger, als dass 1. Gottes Existenz gewiss sei und 2. diese Gewissheit in logischer Strenge erreichbar sei. Sie sei eine logische Denknotwendigkeit „rationaler Naturerkenntnis“: „Das Prinzip, das die nach ihren Gesetzmäßigkeiten verlaufenden Naturprozesse so organisiert, dass jeweils ein zweckmäßiges Naturgebilde entsteht und in ihrem Zusammenwirken ein geordnetes Universum, kann nur ein göttliches, allmächtiges sein.“ (Haag)
Persönliche Erklärung:
Ich veröffentliche ich den Text von Peter Kern im Kritiknetz nach einer Diskussion mit Beiräten des Kritiknetzes. In ihr kamen wir zu dem Resultat, dass die Behauptung Haags von der Gewissheit der Existenz Gottes als logischer Denknotwenigkeit rationaler Naturerkenntnis höchst fragwürdig ist. Haags Konsequenz ist nach unserer Auffassung von seiner Gedankenführung nicht wirklich gedeckt. Wir veröffentlichen den Text gleichwohl als Diskussionsgrundlage. Dafür steht mein Facebook-Account FB Kritiknetz bereit.
Einige Fragen und Gegenthesen.
Ist „der negative Grund“, den Haag postuliert, „nicht wirklich nur eine Denknotwendigkeit – und eben nichts weiter; die also selbst sich nur einer Denk-Abstraktion von jeder positiven Bestimmtheit verdankt, die in der positiven Metaphysik in Form der begrifflichen Imitation des Faktischen auftritt.“ (Hendrik Wallat)
Schlägt hier negative Metaphysik nicht in positive Theologie um, in den Offenbarungsglauben, der sich als solcher verleugnet, indem er sich als logische Konsequenz rationaler Weltauffassung auslegt und sich über jedweden Inhalt des Offenbarten ausschweigt?
Unterläuft Haag hier nicht der Fehlschluss vom Gedanken /Gedachtes auf das Sein des Gedachten? Nur weil etwas als Denknotwendigkeit gedacht wird, muss es doch nicht mit Notwendigkeit wirklich sein. Gedachtes/Begriffliches und Wirklichkeit sind nicht notwendig identisch. Das hieße in Bezug auf Haag: Selbst dann, wenn es die von ihm behauptete Denknotwendigkeit des - nicht positiv bestimmbaren – metaphysischen Realgrunds der Natur gäbe, ließe sich von ihr nicht auf die Wirklichkeit des Gedachten rückschließen.
Wiederholt Haag hier nicht nur in anderer Weise – als Forderung rationaler Weltauffassung Kants Wendung aus der Kritik der praktischen Vernunft, nach die moralisch-praktische Vernunft die Existenz Gottes postulieren müsse, um der Absurdität der Forderungen der praktischen Vernunft angesichts des unmoralischen Zustandes der gesellschaftlichen Welt zu entgehen? Ich denke: Ja. Aber sollten wir aufhören, die bessere gesellschaftliche Praxis anzustreben, weil das angesichts des derzeitigen Zustandes der gesellschaftlichen Welt absurd wäre, wenn es keinen Gott gäbe, auf den ich hoffen kann (was ich nicht wissen kann)? Meine Antwort wäre: Nein! So wären wir eben alle, die an der richtigen Einsicht festhalten, Sisyphus. (Camus)
Schließlich sei an Adornos, aus den Resultaten seiner aufklärerischen Religions- und Theologiekritik gewonnenes Fazit in den Thesen zu „Thesen zu Vernunft und Offenbarung“ (1957/58) erinnert: „Was mehr wäre als dies Nichts“, was die vernünftige Kritik der Theologie zurücklässt, „führte zugleich zum Unlösbaren, und es wäre ein bloßer Trick des eingesperrten Bewusstseins, Unlösbarkeit selber, das Scheitern des endlichen Menschen, als religiöse Kategorie zu verklären, während sie die gegenwärtige Ohnmacht der religiösen Kategorien bezeugt, äußerste Treue zum Verbot, sich ein Bildnis zu machen, weit hinaus über das ,was es einmal an Ort und Stelle meinte. Darum sehe ich keine andere Möglichkeit als äußerste Askese jeglichem Offenbarungsglauben gegenüber“ . Ist nicht auch die Gewissheit von der Existenz Gottes als Denknotwendigkeit rationaler Weltauffassung ein menschengemachtes scheinrationales Begriffsbild im Sinn der zitierten Passage Adornos, ein Trachten danach, durch rationale Reflexion auf die Ratio, das ganz andere dingfest zu machen? Die göttliche Existenz als vermeintliche Denknotwendigkeit wäre dann ein (Begriffs-)Fetisch, ein magischer Denkzwang, der aus „immanenter, gesellschaftlicher Hoffnungslosigkeit“ entspringt, „um sie zugleich zu kaschieren und zu sanktionieren“. Sie wäre mit Marx Worten „das Selbstgefühl des Menschen, der sich entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat.“ „Im besten Fall ist der Wunsch der Vater solcher Denknotwendigkeit: das Bedürfnis nach Rückhalt an festem Vorgegebenen; auch die Hoffnung, man könnte durch den Entschluss der entzauberten Welt jenen Sinn einhauchen, unter deren Abwesenheit man (…) leidet.
Ich empfehle, den Text von Kern zusammen mit dem Text von Hendrik Wallat "Nietzsches Metaphysikkritik und die negative Metaphysik. Reflexion auf Voraussetzungen der Gesellschaftskritik (2019) zu lesen und Gerhard Schweppenhäuser, Metaphysik und kritische Theorie, Postmetaphysisches Philosophieren und negative Metaphysik bei Habermas, Haag und Mensching" (ebenfalls im Kritiknetz) zu lesen.
Links: https://www.kritiknetz.de/kritischetheorie/1525-metaphysik-und-kritische-theorie (Schweppenhäuser)
Heinz Gess
Wenn Sie die imaginäre „Haag-Habermas-Debatte“ von Peter Kern lesen möchten, klicken Sie bitte h i e r .