Zur Kritik eines Grundbegriffs bei Thomas Piketty
"Piketty bewegt sich auf den verdinglichten Hintergrund der modernen Wirtschaftswissenschaften; trotz aller Kritik, die er von dieser Seite einstecken muss. Andererseits wäre ihm nicht das große mediale und öffentliche Lob zuteil geworden, wenn er eine substantielle Kritik der kapitalistischen Gesellschaft formuliert hätte. Allen Kritikern der Ungleichheit sollte bewusst sein, dass eine grundsätzliche Kritik nur möglich ist, wenn man den kategorialen Rahmen der bürgerlichen Ökonomie kritisch überschreitet. Nur wer die Grundbegriffe des Kapitalismus kritisieren kann, wird perspektivisch eine fundamentale Gesellschaftsveränderung anvisieren können. Wer sich weiterhin im kategorialen Rahmen der bürgerlichen Ökonomie bewegt, wird diese weder theoretisch noch praktisch zu transzendieren vermögen. Das theoretische Überschreiten dieser Schranken des bürgerlichen Bewusstseins stellt sich als Prozess der Reflexion auf die unreflektierten Begriffe dar. Der Reformismus lässt sich also nicht nur an den befürworteten Maßnahmen ablesen (627ff.), sondern steckt konzeptuell in der Methode.
Der gesellschaftliche Sinn von Pikettys Buch besteht darin, die Widersprüche des Kapitalismus auf eine systemkonforme Art und Weise zu untersuchen und verhandelbar zu machen. Die Hinweise auf die extreme Zuspitzung der sozialen Lage – das Aufgehen der Schere von arm und reich – sind ausführlich thematisiert, allerdings immer in der Absicht das System des Kapitalismus zu retten. Der Sinn ist somit ein reformatorischer: Die extremen Auswüchse sollen, um den Erhalt des Systems von Kapitalismus und Demokratie zu ermöglichen, angesprochen und praktisch angegangen werden. In einem Vortag vom 07.11.2014 schildert Piketty (2014a) sein Vorhaben und seine Motivation in gebündelter Form: Demokratie und Kapitalismus sind seine politischen Ziele. Die gegenwärtige Entwicklung mit ihrer Zuspitzung der Verteilungsungleichheit geht aber in die Richtung eines Abbaus von Demokratie und des Gleichheitsversprechens der Französischen Revolution. Dagegen wendet sich Piketty als Demokrat und Europäer. Hier liegt gleichzeitig der Knackpunkt seiner Argumentation: Die Frage der Gleichheit hat ihre ökonomische und politische Seite; der Dialektik und Dynamik dieser Konstellation wird Piketty aber keineswegs gerecht. Die grundsätzlichen Probleme von formal rechtlicher und politischer Gleichheit und ökonomischer Ungleichheit lassen sich eben nicht allein auf der Verteilungsebene verhandeln (vgl. Marx MEW 23: 183). Das ernstgemeinte und auch wichtige Festhalten am Demokratiebegriff wird gerade durch den ökonomischen Prozess des Kapitalismus ab absurdem geführt. Piketty zeigt dies anhand seiner Daten auf. Die formal-rechtliche Freiheit und Gleichheit der Subjekte wird durch den ökonomischen Prozess unterlaufen: Sie müssen sich um ihrer Selbsterhaltung willen dieser Struktur, die diesen Prozess bestimmt, ausliefern. Die kritische Analyse des Kapitalverhältnisses zeigt, dass die Menschen „Objekte, nicht Subjekte des gesellschaftlichen Prozesses sind, den die doch als Subjekte in Gang halten“ (Adorno 1968: 358). Die Beziehung zwischen objektivierten Subjekten und subjektivierten Objekt kennzeichnet die gesellschaftliche Struktur der kapitalistischen Gesellschaft. Aber um das zu begreifen, müsste man das andere Kapital lesen." (Paul Stegemann)
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