Georg Seeßlen liest den Amoklauf - School Shooting - als Metapher und als Symptom der traumatischen Gesellschaft. Er ist die schreckliche Spur der gesellschaftlichen Gleichgültigkeit, Kälte und Verlassenheit der Menschen. Daran versagen Glaube und Aufklärung. Der Kritische Theoretiker nennt das Versagen "Dialektik der Aufklärung". Der Gläubige hört den Papst in Auschwitz klagen: "Gott, warum hast du geschwiegen?" und fühlt sich an den Unschuldigen erinnert, der am Kreuze aufstöhnte: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen". In den Amokläufen kommt für einen Moment die ganze Verzweiflung des Menschen zum Ausdruck, der weder sich noch das System versteht, in dem er lebt.
Geschwiegen hat aber nicht Gott, damals nicht und heute in Winnenden nicht. Verlassen war der gequälte junge Mensch nicht von ihm. Verlassen war er von dem traumatischen Gesellschaft und ihren willigen Vollstreckern. Die mit ihm Gleichgeschalteten und darin Hochgekommenen kennen keine Nächsten. Wo sie das Sagen haben, verdorrt die lebendige, die Vermittlung reflektierende Unmittelbarkeit. Ihr konformistischer Betrieb und sie selbst als lebendige Verdinglichung sind ohne Nächstenliebe, Anerkennung, Rücksichtnahme und individuelle Treue. Ohne die Lust am Leben mit anderen wälzt sich der Betrieb im Strom allseitiger Verwertung des Lebendigen fort und begräbt es unter sich. Der Amokläufer ist der leere, verzweifelte Protest gegen dieses Begräbnis am eigenen Leibe und die negative Identifikation mit dem gesellschaftlichen Betrieb zur Liquidation von Lebenslust und Leben, die Identifikation mit dem Begräbnis der eigenen Person, die nicht werden konnte. Seine Tat schreit gewissermaßen heraus: "Wenn ich schon nicht Person werden kann und untergehen muss, wenn ich nichts als ein Nichts bin, dann soll es euch, die ihr mitgemacht habt in dem Betrieb der Liquidation des Lebens, mir das angetan oder dazu geschwiegen habt, nicht anders ergehen". Es ist ein lauter, gewaltsamer, blindwütiger Protest gegen die Verhältnisse, die der kindliche Jugendliche zerstörerisch empfand, und ein Protest zugleich, der in sehr viel brutalerer, übersteigerter und unmittelbarer Weise das an anderen Unschuldigen wiederholt und vollstreckt, was er selbst wähnt, erlitten zu haben: Zerstörung, Vernichtung, ein Nichts zu sein. "Seid ihr immer noch nicht tot" - schreit es deshalb aus dem verzweifelten Jungen heraus, nachdem er bereits zwölf Menschen ermordet hatte.
Gewiss wird sich sogleich eine Heerschar Psychologen "des Einzelfalles", deren es mittlerweile sehr viele gibt, bemächtigen, und den Fall erklären. Sie werden dazu auf "das Lernen am Modell" (Bandura), auf die Theorie der "differentiellen Assoziation" (Sutherland) oder auf psychoanalytische Erklärungsmuster wie das vom gestörten Primärnarzissmus und deshalb übertrieben (malignen) Sekundärnarzissmus oder andere Modelle zurückgreifen. Sie werden gewiss auch darauf aufmerksam machen, wie es sich auf einen schon in der Kindheit tief gekränkten, verletzten, sich ohnmächtig und verlassen fühlenden Menschen, der Verletzungen und Kränkungen in sich ‚hineingefressen' hat und labil zwischen tiefer depressiver Verstimmung und der überbordenden Gegenreaktion gegen diese Verstimmungen, der Identifikation mit der allmächtigen traumatischen Gesellschaft hin und her schwankt, auswirkt, wenn er die Gelegenheit hat, suchtartig pausenlos aggressive Filme oder Gewaltspiele zu konsumieren und sich dadurch in die medial angebotene Rolle des Helden und Rächers hineinzusteigern. Die Wirkungen sind vermutlich verheerend. Die Identifikation mit der medialen Rolle kann unter diesen Umständen so weit gehen, dass die Welt des Visuellen zur eigenen Welt des Jugendlichen und der Jugendliche zu einem gespaltenen vereinzelten Einzelnen wird: Auf der einen Seite die Nr. 1, der Öffentlichkeit angepasste, sich zurückhaltende, schüchterne, ängstliche Junge Tim K., den "niemand ernst nimmt", auf der anderen Seite insgeheim vor dem Computer als Kompensation für das, was er in der Öffentlichkeit vermisst, die Nr. 2, der große Held und Rächer, mit dem es keiner aufnehmen kann. Diese zweite simulierte geheime Realität hinter der ersten öffentlichen wirklichen Realität - Rambo, Supermann oder was auch immer - kann dann irgendwann stärker werden als die der Nr. 1 und unreflektiert und unkontrolliert, aber im Vollzug der phantasierten "Heldentat" durchaus instrumentell rational, durchbrechen.
Das alles ist gewiss nicht falsch. Aber es trifft nur eine Dimension der "Kid Crisis" und ihrer Folgen. Die "psychologische" bzw. psychologisierende Dimension "des Falles" löst die Tat und ihre Entstehung aus dem gesellschaftlichen Kontext und derealisiert sie durch die Reduktion, bringt sie um ihre gesellschaftliche Bedeutung als Gleichnis und Symptom für den komplett falsch gewordenen Zustand. Dadurch wird die psychologische Teilwahrheit der Funktion nach zur Unwahrheit und Lüge. Sie wird zur Rationalisierung der Unmenschlichkeit einer traumatischen Gesellschaft, in der es mittlerweile zum Privileg Weniger geworden ist, noch zur Person werden zu können, während für die große Masse der jungen Generation diese Chance nicht mehr besteht. Das ahnen sie auch und suchen außer im Amoklauf im massiven legalen und illegalen Drogenkonsum, Komatrinken, aggressiven Fremdenhass, Antisemitismus und Rechtsextremismus ihre Zuflucht. Die eindimensionale Gesellschaft produziert eindimensionale psychologische "Erklärungen, die allesamt eines nicht tun, nämlich ihre tödliche Eindimensionalität, die zum Zusammenschluss von lebendigen Toten geworden ist, selbst als Ursache der Erkrankung der Menschen zu reflektieren. Stattdessen versprechen die Verkäufer psychologischer Dienstleistungen jedes Mal aufs Neue gerührt, dass alsbald die psychologische Prävention und Therapie greifen werde, versprechen, dass es wie gehabt weiter gehen kann, und wieder fühlt sich der potentielle Täter gründlich missverstanden und möchte die "Fachleute" und "Soziaklempner" am liebsten gleich mit umbringen. Denn sie gehören in seinen Augen dazu und lügen, sind darum vielleicht schlimmer noch als die anderen. So geht das weiter - bis zum nächsten Mal, wo dann alle Beteiligten sich neu wieder medial in Szene setzen, als seien sie "tief betroffen und alle Fragen offen". So wird das auch bleiben, solange gilt: Am System und seinen Betriebsnudeln darf es nicht gelegen haben.
Georg Seeßlen macht dieses üble "Gesellschaftsspiel" der Kulturindustrie, das den Amoklauf als Menetekel an der Wand nicht wahrhaben will, nicht mit. Er liest ihn als Symptom und Metapher des gesellschaftlichen Unheils und öffnet die Augen fürs Falsche am Ganzen. Das ist seine Stärke.
Heinz Gess
Link zur PDF Version der Arbeit "KID CRISIS & THE IMPLODING TEARS
School Shootings und andere Amokläufe": Klicken Sie bitte hier.