Zu der positiven Einschätzung des Nationalsozialismus kommt Jung durch Überlegungen, die dem Kern seiner Lehre entsprechen, die also keinesfalls, wie er 1947 zugestanden haben soll, nur »ein Ausrutscher« sind (Evers 1987, S.148). Der entsprechende Gedankengang Jungs sieht wie folgt aus: Um sich als Individuum erhalten und der Gefahr, sich in der Masse zu verlieren und darin unterzugehen, widerstehen zu können, muss der einzelne in seiner Individualität ebenso organisiert sein wie die organisierte Masse. Wie die chaotische Masse nur dadurch Struktur und Richtung gewinnt, dass »die chaotisch sich gegenseitig durchkreuzenden Bewegungen [...] von einem diktatorischen Willen in eine bestimmte Richtung gezwungen werden, so bedarf der dissoziierte Zustand des Einzelnen eines Richtungs- und Ordnungsprinzips« (Jung 1957, S.308).
Dazu reicht aber der Wille des Ichbewußtseins nicht aus, sondern es bedarf des »Zuflusses der instinktiven Dynamik« (ebd., S.313), die nur fließt, wenn der Wille dem objektiv seelischen Sinn, der hereditären archetypischen Ordnung entsprechend sich organisiert. Das sagt Jung 1957 und preist mit diesem Argument Religion als Instrument der Selbstbehauptung in der Massengesellschaft an und im Namen von Religion Unterwerfung unter Heteronomie: »Religion bedeutet Abhängigkeit von und Unterwerfung unter irrationale Gegebenheiten«. Infolge dieser Abhängigkeit stelle sie »ein Reservat gegenüber dem sinnenfälligen und unausweichlichen Zwang der äußeren Verhältnisse« dar, »denen jedermann, der nur in der Außenwelt lebt, [...] ausgeliefert ist.« (ebd., S.284) Dasselbe sagt er mit etwas anderen Worten schon 1912 in »Symbole und Wandlungen der Libido«, dem Buch, mit dem er die endgültige Abspaltung von der Freudschen Psychoanalyse einleitete. Dort heißt es: »Die biologischen Triebe stoßen .. nicht nur gegen eine äußere, sondern auch innere Schranke. Dasselbe psychische System, das einerseits auf der Konkupiszenz der Triebe beruht, gründet sich andererseits auf einen Gegenwillen, der mindestens ebenso stark ist wie der biologische Trieb«, den »Willen zur Veränderung oder Unterdrückung der natürlichen Triebe, [...] genauer gesagt der Vorherrschaft und Unkoordiniertheit derselben«. Er »stammt [...] aus der geistigen Quelle, d.h. aus numinosen, psychischen Bildern.« (Jung 1912, GW.5, S.199) Und 1918 heißt es: »Aus dem rein Tierisch Triebhaften [gehen] auch jene Größen hervor, welche die Macht des Instinktes beschränken. Aus der gleichen Wurzel, aus der der schrankenlose, blinde Trieb hervorbricht, kommen auch die natürlichen Gesetze und Formen, welche die ursprüngliche Kraft bändigen und brechen. [...] Die Produkte des Unbewußten sind reine Natur. Natur ist nicht an sich eine Führerin, [...]. Wenn wir sie aber als Führerin benutzen wollen, so dürfen wir mit den Alten sagen: Naturam si sequetur ducem, nunquam aberrabimus' (Wenn wir der Natur als Führerin folgen, werden wir niemals irre gehen).« (Jung 1918, S.34/36)
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