Was hierzulande unter „demokratischer Politik“ verstanden wird, die Diskussion in den Medien und den Parlamenten, die Anhörung von Experten, die Stellungnahmen von Interessengruppen etc. ist genau dieser Prozess, zum einen die Inhalte einer Politik zu bestimmen, deren Rahmen aber feststeht und von den Akteuren auch nicht in Frage gestellt wird und ihr zum anderen ein Höchstmaß an Legitimation zu verschaffen – bis hin zur Möglichkeit, die bestehende Regierung abzuwählen, damit eine neue Regierung mit mehr Legitimation und vielleicht auch mit geschickteren Maßnahmen innerhalb desselben Rahmens weiter agieren kann. Bei all diesen Prozessen handelt es sich keineswegs um ein klug ausgedachtes Täuschungsmanöver der Herrschenden, die alle Fäden in der Hand halten und von Anfang an genau wissen, was sie wollen.
Es ist vielmehr ein Prozess, in dem Politik überhaupt erst formuliert und durchgesetzt wird. Allerdings ist dies kein tatsächlich offener Prozess, dessen Ausgang lediglich von den „Kräfteverhältnissen“ abhinge, so dass mit ausreichendem „gesellschaftlichem Druck“ dann auch alles mögliche durchgesetzt werden könnte. Letzteres scheint aber die Illusion des Mainstreams der Globalisierungskritiker zu sein. Und inzwischen sind sie auch im Vorhof der „etablierten Politik“, die sie verändern wollen, angekommen. Nach anfänglicher völliger Ablehnung werden ihre Vorschläge nun allerorten wohlwollend geprüft. Die rot-grüne Parteienlandschaft entdeckt zunehmend, dass hier ein Potenzial entsteht, das sich eines Tages auch in Wählerstimmen umsetzen könnte, und selbst Institutionen wie der IWF zeigen sich durchaus diskussionsbereit. Es ist schon absehbar, dass nun eine längere Debatte über die Tobin-Steuer und ähnliche Maßnahmen beginnt, dass Gutachten in Auftrag gegeben werden (selbstverständlich auch an „kritische“ Gutachter), dass Expertenhearings veranstaltet werden und in vielen Kommissionen und Ausschüssen über die Themen der Globalisierungskritiker diskutiert wird. Hier kann dann leidenschaftlich um die entscheidenden Nebensätze in den Abschlussdokumenten gerungen werden. Ein Teil der Bewegung ist gut beschäftigt und erhält eventuell sogar finanzielle Unterstützung für seine Arbeit. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass einige Anregungen von den Globalisierungskritikern aufgegriffen werden. Denn wie viel Regulation der internationale Kapitalverkehr wirklich benötigt, um nicht seine eigene Profitabilität zu untergraben, ist keine ein für allemal zu klärende Frage. Auch die Emphase, mit der vor allem die von Pierre Bourdieu gegründete Gruppe „raisons d’agir“ für ein soziales Europa streitet, das sie den neoliberalen USA entgegengestellt, enthält euronationalistische Momente, die sich von der EU hervorragend funktionalisieren lassen.
Heinz Gess
Heinz Gess
Link zum Artikel (PDF): "„Entfesselter Kapitalismus“? – Zur Kritik der Globalisierungskritik". Klicken Sie bitte hier.