Das kollektive Unbewußte, das Jung beschwört, ist Produkt einer Gesellschaft, die die Fähigkeit der Menschen, miteinander Gesellschaft zu machen und die Unmittelbarkeit sich nicht verdorren zu lassen, zerstört. Die traumatischen Erfahrungen des Nicht-angenommenseins, der Gleichgültigkeit derer, die in Kindertagen die Welt sind, der erfahrenen Nichtigkeit der eigenen Existenz, der Gewalt der eingebläuten Moral, des Funktionieren-müssens, die Angst vor dem Verschlungenwerden, all diese traumatischen Erfahrungen werden aus Überlebensangst verdrängt und abgespalten. Ins Unbewußte verdrängt, verselbständigt sich das am eigenen Leibe Erlittene, mit den eigenen Sinnen Erfahrene zu einem von der eigenen Person losgelösten »ewigen« Gehalt jenseits von Raum und Zeit, der als solcher, als vermeintlich objektiv-unpersönlicher, in erinnerten Traumbildern etwa, wieder bewußt werden kann.
Die Bilder sprechen in Wahrheit von dem, was wirklich geschah und immer noch geschieht, von der wirklichen traumatisierenden Gesellschaft, und diese ist etwas im wirklichen Leben mit wirklichen anderen und am eigenen Leibe Erlebtes. Gerade das aber muß ausgelöscht und vergessen gemacht werden, damit das reale Geschehen in Form vermeintlicher Urbilder »erinnert« und auf diese Weise verfremdet zum Bewußtsein zugelassen werden kann. So können die imagines der in den Schuldzusammenhang verstrickten Nächsten rein erhalten werden und die in den Erfahrungen aufscheinende Unversöhntheit der Menschen mit dem gesellschaftlichen Betrieb und der darin liegende Impuls zu einer besseren Praxis, zur Kritik und zum Widerspruch ausgeblendet werden. Die archetypischen Erinnerungen, die Jung hervorholt, um sich mit »Kinderstubenangelegenheiten« (Rittmeister, 1968, S. 942) nicht beschäftigen zu müssen, breiten, obgleich sie »Erinnerungen« heißen, den »Mantel des Vergessens« aus. Das wiederum ist die Bedingung dafür, in falschen Abhängigkeiten zu bleiben und dem gesellschaftlichen Ganzen gegenüber dieselbe positive Einstellung einzunehmen, wie sie einst das »brave Kind« gegenüber den es bedrohenden und zugleich erhaltenden Gewalten tat, ist die Bedingung dafür, das herrschaftliche und durchaus nicht gewaltfreie Ganze als das zu nehmen, als das es sich selber darstellt und die wesentlichen ideologischen Topoi der kapitalistischen Vergesellschaftung für die Wahrheit zu nehmen. Es ist auch die Bedingung für die Verfügbarkeit Jungs für die nationalsozialisische Ideologie 1933, die ihm erlaubt, es endlich einmal »zurückgeben« zu können und die früh verdrängte Wut an dem von der Ideologie bereitgestellten Feind abzureagieren. Jungs Archetypen sind, in Adornos Worten, »die gegenwärtige, Soziales verschlüsselnde Gestalt des Mythos. [...] Mythen sind es im strengen Sinn. Denn die Verwandlung des Gesellschaftlichen in ein Inwendiges und scheinbar Zeitloses macht es unwahr. Die imagerie ist, wörtlich verstanden und akzeptiert, notwendig falsches Bewußtsein«. (Adorno 1966/1979, S. 92)
Heinz Gess
Link zum Artikel (PDF): "Jungs "praktische Psychologie" des "autonomen Geistes''. Eine Ideologiekritik". Klicken Sie bitte hier.
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