Die deutschen Sozialwissenschaften auf dem Weg in den Nationalsozialismus
Der deutsche Neoliberalismus ist nach Stapelfeldt "die gesellschaftliche, nationalökonomische Gestalt erinnerungsloser Gegenaufklärung nach 1945: der Verdrängung der nationalsozialistischen Verbrechen, des Mythos der ‚Stunde null’, der Übertragung des Nationalsozialismus auf den Sozialismus – auf die Ideen der Vernunft und der Rationalität, auf das utopisch gerichtete Begreifen der Gegenwart, der gegenwärtigen Vergangenheit." (Stapelfeldt) Darum habe Theodor W.Adorno (1959) konstatiert „Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern. (...) Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie.“ (Adorno, GS 10.2: 555f.; vgl. ebd. 572)
Die kollektive gesellschaftsgeschichtliche Erinnerungslosigkeit ist für Stapelfeldt für das wesemtliche Kennzeichen Volks-Identität der Deutschen bis heute. Die Erinnerungslosigkeit habe nur ihre Formen gewechselt: "vom Tabu der 50er und frühen 60er Jahre (...) bis zu Formen informierter Erinnerungslosigkeit und ritualisierter Erinnerung nach 1970 und mehr noch nach der deutschen Einheit 1990. Daß Antisemitismus und Rassismus in der Demokratie „fortwesen“, läßt sich vielfach belegen: etwa am deutschen ‚Historikerstreit’ um 1986/88, an den vorurteilsvollen Debatten über Arbeitslosigkeit, Immigration oder das Asylrecht, ..." (Stapelfeldt)
Die Gegenaufklärung als Volks-Gemeinschaft entzieht durch die totale Vergesellschaftung des Subjekts, die „Liquidierung des Individuums“ (Adorno, GS 14: 21, 26, 50) sowie die Formierung des sado-masochistischen Charakters (Fromm 1936) der Kritik. Weil sie aber die Vernunft-Idee der Gesellschaft durch die Form der Negation, die sie darn übt, negativ in sich enthält, kann diese Idee und ihr besseres Potential doch aufklärend erinnert werden: "durch die Darstellung der Geschichte dieser Negation, vermittelt durch eine Kritik der Wissenschaft von der Gesellschaft, die ihrem Gegenstand angehört und dessen Logos ausspricht." (Stapelfeldt)
Das unternimmt Stapelfeldt im vorliegenden Essay. Er "folgt der Geschichte von der Aufklärung und der frühen Gegenaufklärung um 1800 zum Nationalsozialismus und zur „Wiederkehr des Verdrängten“ in Deutschland nach 1945."(Stapelfeldt)
Heinz Gess
Inhalt
- Einleitung: Aufklärung und Gesellschaft – Gegenaufklärung und Volks-Gemeinschaft
- Dialektische und positivistische Kritik der Französischen Revolution: Hegel (nach 1819), Comte (nach 1822)
- Gegenaufklärerische und national-liberale Kritik der Französischen Revolution: Burke (1790), v. Savigny (1814), Fichte (1793-1808)
- National-liberale „Volksökonomie“ als „Macht“-Ökonomie: List (1818-1846)
- Kritik der historischen Vernunft: Diltheys geisteswissenschaftlicher Positivismus (1883, 1910)
- Gemeinschaft und Gesellschaft: Tönnies’ naturwissenschaftlicher Positivismus (1887)
- Das „Gehäuse der Hörigkeit“: Autoritarismus, Biologismus, Krieg – M. Webers apologetische Kritik (1895-1920)
- Händler und Helden: Sombart (1915)
- Revolution von rechts: Freyer (1931)
- Ausmerzende Soziologie: Walther (1936)
- „Das ist ein metaphysisches Geheimnis, an das der Soziologe nicht zu rühren vermag.“ v. Wiese (1946)
→ Link zum Vortrag von Gerhard Stapelfeldt h i e r
Material zu einem Vortrag, gehalten am 12. Dezember 2014 auf Einladung der Studierenden am Institut für Soziologie der Universität Wien. Die verhandelte Frage hat Georg Lukács in Die Zerstörung der Vernunft als „Weg Deutschlands zu Hitler auf dem Gebiet der Philosophie“ untersucht: durch die Aufklärung der „Geschichte des Irrationalismus“ (Werke Bd. 9: 10, 12).
Der Text ist eine Argumentations-Skizze. Ausführlich habe ich das Thema entwickelt in: Der Imperialismus. Krise und Krieg 1870/73 bis 1918/29. Zweiter Band. Hamburg 2008: 71-136; Kapitalistische Weltökonomie. Vom Staatsinter-ventionismus zum Neoliberalismus. Zweites Buch. Hamburg 2009: 79-162. Die Abschnitte IX, X und XI folgen meiner Darstellung in: Geist und Geld. Von der Idee der Bildung zur neoliberalen Wissensgesellschaft. Hamburg 2015: 163-192