Würdigung und Kritik des gleichnamigen Buches von Ernst Bloch
Gerhard Stapelfeldt legt im folgenden Essay dar, dass Blochs "Geist der Utopie" zwei Seiten hat. Auf der einen Seite (1) ist es eine vehemente Kritik des verdinglichten gesellschaftlichen Kosmos instrumenteller Vernunft, die in gewisser Weise vorwegnimmt, was rund ein Jahrzehnt später im Frankfurter Institut für Sozialforschung zum Programm der "Kritischen Theorie der Gesellschaft" wird. Diese Seite würdigt Stapelfeldt sehr ausführlich. Auf der anderen Seite (2) bleibt die Kritik Blochs durch die Form ihrer Durchführung aber auch dem von ihr Kritisierten wesentlich verhaftet. Sie durchdringt es nicht in immanenter Kritik, sondern setzt sich ihr nur äußerlich-dogmatisch entgegen. Insofern verfehlt sie den Anspruch, den die dialektische, historisch-materialistische Kritik der in sich widersprüchlichen gesellschaftlichen Faktizität als Selbstverständigung der Bewegung der Emanzipation an sich stellen muss.
(1) Angesichts des Ersten Weltkrieges, in dem die Widersprüche des zum technisch-rationalen "Automatismus" (Bloch) verdinglichten gesellschaftlichen Kosmos, der als System der Konkurrenz in Erscheinung tritt, zum kriegerischen Austrag kamen, und angesichts einer vorherrschenden Form des Marxismus, der seinerzeit selber der Blendung durch die instrumentelle Rationalität gesellschaftlicher Herrschaft verfiel, als deren revolutionäre Kritik er angetreten war, sieht Ernst Bloch es nach Stapelfeldt als zentrales praktisches Problem der Zeit, den Geist des Widerspruchs wach zu halten. Deshalb wendet er sich der Klärung des Zusammenhangs von Widerspruchsgeist und Utopie zu in der Absicht, Utopia nicht wiederum wie in der bürgerlichen Aufklärung durch integrierende begriffliche Konstruktionen oder dualistische Entgegensetzungen zu verraten. Die Intention, die Erinnerung an das Nichtidentisch-Utopische wach zu halten und in eins damit den Geist des Widerspruchs zu stärken, prägt durchgängig die gesamte Sprache Blochs (nicht nur) in "Geist der Utopie". Für Stapelfeldt kann Bloch deshalb zu den Vorgängern der Kritischen Theorie der Gesellschaft von Horkheimer, Adorno, Marcuse, Löwenthal et al. gezählt werden: "Blochs utopisch-vernünftiger Rekurs auf das Judentum und auf die jüdisch-christlich begriffene Kunst-Verheißung wird wenige Jahre später von Adorno, dann von Horkheimer und Adorno in der "Dialektik der Aufklärung" und endlich in Adornos musiktheoretischen Werken sowie in seiner nachgelassenen Ästhetischen Theorie entwickelt." (Stapelfeldt)
(2) Die aus dem "Geist der Utopie" geübte Kritik bleibt dem von ihr Kritisierten wesentlich verhaftet, weil sie sich der verworfenen Faktizität bloß dogmatisch entgegensetzt. Das zeigt sich u. a. daran, dass
a. Bloch den weltgeschichtlichen Prozess der Entmythologisierung nicht aufklärt, sondern "die kritisch-utopischen Potentiale jenseits dieses Fortschritts in den Bereichen sucht, die scheinbar von jenem Fortschritt nicht mitgerissen wurden." (Stapelfeldt) Seine Kritik rekurriert auf den Mythos, zwar nicht auf den Ursprungsmythos, sondern auf den utopischen Mythos; "nicht auf den Vergangenheitstraum, sondern auf den utopischen Wachtraum; nicht auf das Unbewusste, sondern auf das noch nicht Bewusste. Die Erinnerung des Fortschritts ist somit von der Utopie, die Aufklärung der vergangenen Gewaltgeschichte von der utopischen Hoffnung entkoppelt." (Stapelfeldt)
b. Bloch nirgends darlegt, warum die Musik als Erbin der Offenbarung des kommenden Reichs Gottes vom Fortschritt der »Entzauberung der Welt« ausgenommen ist. Die Auslassung ist nach Stapelfeldt nicht zufällig: "Gilt der »Geist der Musik« als ein Apriorisch-Utopisches, eben als »Prinzip Hoffnung«, dann ist die Utopie nicht aus einem Prozeß der Aufklärung hervorgegangen, sondern dogmatisch gesetzt: mythologisch, anthropologisch, naturphilosophisch." (Stapelfeldt)
c. Bloch eine kommende Gesellschaft anvisiert, die sowohl eine Arbeitsgesellschaft, ein "Mechanismus der Ökonomie" als auch ein "Reich der Freiheit", ein "Leben jenseits der Arbeit", ein "Reich sittlicher Wesen" (Bloch) ist. Der instrumentelle Rationalismus, die (verwertungs-) rationale Organisation der Arbeit, der Zwang zur Produktivkraftentfaltung, all das also, was die kapitalistische Politik-Ökonomie bestimmt und auch die sozialistische Politik prägte, bleibt unaufgeklärt in Kraft. Auch die "kommunistisch durchorganisierte Sozialwirtschaft" (Bloch) bleibt bei Bloch ein dinglicher "Mechanismus«, ein automatisches System der "Arbeitswirtschaft", neben der sich als ihre himmlisch-diesseitige Ergänzung "das Reich der Freiheit" entfalten soll, die "Auferstehung von den Toten", "die Offenbarung des Namen Gottes" (Bloch).
Heinz Gess
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